Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf der Suche nach dem großen Glück …
Der berührende Liebesroman vor der traumhaften Kulisse Kanadas
Rebecca Maywood führt ein beschauliches Leben in der kanadischen Kleinstadt Wolfberry. Eigentlich hat sie alles, was sie braucht, doch ihre Eltern haben eine andere Vorstellung vom Leben und drängen sie zu einem Medizinstudium. Als sie in der Bibliothek auf Noah trifft, fühlt sie sich das erste Mal verstanden. Noah stammt von den Native Americans ab, wuchs aber nicht bei seinem Volk auf, sondern wurde in Kanada von der Familie Mikaels aufgezogen. Obwohl Rebeccas Eltern strikt gegen die Freundschaft sind, treffen sich die beiden immer öfter. Als ihre Familie schließlich dahinterkommt und ihre Beziehung zu Noah missbilligt, flieht Rebecca zu ihrer Großtante Clara. Doch anstatt Ruhe zu finden, erfährt sie von einem Geheimnis, das alles verändert. Denn es gab schon einmal jemanden, der sich dem indigenen Volk nah fühlte …
Die Farben des Windes
Genre: Romance/Familiengeheimnis
Verlag: Digital Publisher
→ Thalia
(* Affiliate-Link)
Leseprobe
Entfernter Donner grollt über die Ebene. Der Himmel über dem Waldrand hat sich in ein dunkelgraues Ungetüm verwandelt. Regen prasselt an mein Fenster, und durch die nasse Scheibe wirkt die Umgebung von Wolfberry leicht verschwommen.
Ich beobachte, wie meine Mutter ins Haus eilt, den Schirm schützend vor sich haltend, weil der Wind ihr die Nässe regelrecht ins Gesicht bläst. Als sie unter das Vordach läuft, verliere ich sie aus den Augen.
Ich werfe einen Blick auf meinen Schreibtisch, wo die Unterlagen der Universität von Calgary liegen. Wüsste mein Vater, dass ich sie noch nicht einmal ausgefüllt habe …
Mit einem Seufzen wende ich mich ab, gehe zu meiner Schminkkommode, die einst meiner Tante gehört hat. Ich setze mich auf den Stuhl davor, zeichne mit dem Zeigefinger die Verschnörkelungen im Holz nach. Um mich abzulenken, sortiere ich meine Pastellnagellacke, puste den Staub von der Ablage, schiebe mein Schminktäschchen von einer Seite zur anderen, weil ich dafür einfach nie einen Platz finde, an dem es mich nicht stört. Denn ich nutze die Kommode nur selten, um mich aufzuhübschen. Eigentlich fertige ich hier Traumfänger und Schmuck an.
Ich schrecke auf, als ich höre, wie jemand die Treppe hochkommt. Rasch klaube ich die Dokumente der Universität zusammen, verberge sie in einer Schublade meines Schreibtisches, der vor Lernbüchern überquillt.
Ich lausche in Richtung Korridor, doch meine Mutter geht an meinem Zimmer vorbei. Ich erkenne sie an ihren klackernden High Heels. Mir entschlüpft ein erleichtertes Aufatmen, und ich gehe zurück an die Kommode.
Meine Eltern wollen, dass ich Ärztin werde, am besten eine preisgekrönte Chirurgin. Unwillig schnaufe ich auf. Niemand hat gefragt, was ich eigentlich möchte.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel vor mir. Mein unglücklicher Gesichtsausdruck betrübt mich noch mehr.
Obwohl es immer noch regnet, bahnt sich die Sonne einen Weg bis in mein Zimmer. Mein glattes Haar leuchtet in Kupfergold auf, für einen Moment scheint sogar das Grün meiner Augen intensiviert zu sein.
Ich schaue hinaus, erkenne schemenhaft einen Regenbogen, der sich über das Feld zieht. Als ich nun erneut in den Spiegel sehe, zeichnet sich ein feines Lächeln auf meinen Lippen ab.
Ich stehe auf und öffne das Fenster. Der Duft des nahen Waldes umweht mich. Tief schöpfe ich Atem, um die frische Luft aufzunehmen. Mit geschlossenen Lidern genieße ich die Gerüche, träume davon, zwischen den hohen Bäumen zu stehen.
Ich höre, wie jemand ohne anzuklopfen die Tür aufreißt und wirble herum.
„Hey, Rebecca, kommst du nachher mit in die Bibliothek? Ich soll dich von Mom fragen. Sie sagt, du musst dort noch Bücher abgeben.“ Mein Bruder George sieht mich abwartend an, er ist zwei Jahre jünger als ich.
Ich beäuge den Bücherstapel auf meinem Schreibtisch. „Ja, das muss ich wohl.“
„Ich geh so in einer Stunde. Komm mit oder nicht.“
„Ich komm dann runter.“
Er zieht die Tür mit einem lauten Geräusch zu und poltert die Stufen zu Küche und Wohnzimmer hinunter.
Für Wolfberry haben wir ein recht großes Anwesen. Meine Familie bewohnt ein zweistöckiges Haus mit großem Gartengrundstück, das mein Vater zu einem japanischen Ziergarten gestaltet hat. Etwas, das in einer kanadischen Kleinstadt schon außergewöhnlich ist. Meine Eltern lieben es aufzufallen.
Hier im oberen Bereich haben mein Bruder und ich unsere Zimmer. Das Schlafzimmer meiner Eltern ist am Ende des Flurs.
Missmutig sehe ich auf die Schublade, in der ich die Aufnahmepapiere der Uni verborgen habe. Ich könnte sie endlich ausfüllen, würde sich nicht alles in mir dagegen sträuben. Stattdessen schließe ich das Fenster, gehe erneut zu meiner Schminkkommode und hole die unvollständige Kette hervor, die ich gestern Abend noch nicht fertigstellen konnte.
Geduldig ziehe ich türkisfarbene Perlen auf, den Abschluss bildet ein einfacher Verschluss, den ich geschickt mit Ösen an dem Lederband befestige. Ich lege mir den Anhänger auf die Handfläche. Eine kleine Eule schaut mich an. Ihre Augen bestehen aus dunklen Kristallen. Links und rechts wird der Vogel von zwei länglichen Silberfedern eingerahmt, an die sich die Perlen reihen.
Oft verschenke ich meinen Schmuck, ich verkaufe ihn allerdings auch an Freunde und Bekannte, um mir etwas dazuzuverdienen. Die Traumfänger hingegen mache ich auf Bestellung. Die Leute hier in der Gegend mögen die hübsche Dekoration, die ich für sie nach ihren Wünschen herstelle.
Diese Eulenkette fühlt sich besonders an. Kurzerhand lege ich mir den Schmuck selbst um den Hals und betrachte mich im Spiegel. Zart streiche ich über den kleinen Vogel.
„Ja, da gehörst du hin“, flüstere ich.
Ich überlege, ob ich meine Sommersprossen mit Make-up abdecken soll, damit mich mein Bruder deswegen nicht wieder aufzieht, aber ich lasse es sein. Soll er doch darüber witzeln. Ich habe zumindest nicht die Knollennase unseres Vaters geerbt wie er.
Die eine Stunde vergeht rasch, und ich schaffe es gerade noch, mich umzuziehen, denn ich würde ungern mit Jogginghose in die City gehen.
Als ich die Treppe in den unteren Wohnbereich herunterkomme, wartet George schon auf mich. Ich werfe einen Blick in unser elegantes Wohnzimmer, das mit der offenen Küche aus weißem Holz verbunden ist. Mein Vater ist noch nicht zu Hause. Wäre es anders, hätte ich ihn zuerst begrüßen müssen. Niemand begeht den Frevel, ihn zu übergehen.
„Ist Mom noch oben im Schlafzimmer?“, fragt mich mein Bruder und zieht sich eine leichte Jacke über.
„Ich glaube schon. Zumindest habe ich nicht gehört, dass sie runtergegangen ist.“
„Nimmt wahrscheinlich ein Bad. Ihr Arbeitstag war wohl ziemlich übel.“
Das verheißt nichts Gutes.
Meine Eltern haben hinter ihrem Schlafzimmer ein eigenes Bad, das George und ich nicht benutzen dürfen. Es ist sozusagen der heilige Bereich meiner Mutter, in dem man sie auf keinen Fall stören darf.
„Kommst du jetzt endlich?“, murrt mein Bruder und hat schon die Hand an der Türklinke.
„Jaah.“
Ich schlüpfe in meine Sneakers, da geht die Tür auf. George kann gerade noch zurücktreten.
„Was steht ihr denn hier im Eingang rum?“, fragt unser Vater in genervtem Ton. Er drängelt sich an meinem Bruder vorbei, um seine Aktentasche abzustellen.
„Hallo Dad.“ Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Entschuldige, wir wollen zur Bücherei.“
Er nickt und wendet sich George zu, der ihn ähnlich wie ich begrüßt. Auf Vaters Gesicht stiehlt sich ein Lächeln. Er wuschelt ihm durch das braune Haar. „Dann viel Spaß euch beiden. Ist eure Mutter schon da?“
„Ist oben im Bad“, antwortet mein Bruder.
„Oha. Dann gibt es wohl später Abendessen.“
„Soll ich dir was vom Imbiss mitbringen?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
„Du könntest vielleicht mal lernen, vernünftig zu kochen. Aber wenn ich mir den Stapel Bücher ansehe, der wahrscheinlich schon überfällig ist, geh besser in die Bibliothek.“
Ich möchte ihm sagen, dass ich bereits kochen kann, doch ich halte mich zurück. Gegen die Kochkünste meiner Mutter komme ich nicht an. Sie zaubert die ausgefallensten Gerichte, immer perfekt dekoriert, und verbringt manchmal Stunden in der Küche.
„Komm jetzt!“ George packt mich am Arm und zieht mich nach draußen.
„Bist du verabredet, oder warum hast du es so eilig?“ Sonst ist immer er derjenige, der alle Zeit der Welt zu haben scheint.
„Kann sein.“
Also wird er mir nichts Näheres verraten.
Ich schließe die Haustür, denn mein Vater ist schon längst nicht mehr im Korridor. Im Schnellschritt gehen wir die Straße rauf, bis wir zu einer Kreuzung kommen, an der wir uns nach rechts wenden.
Das Wetter hat sich zum Glück gebessert. Der Himmel ist zwar noch bedeckt, aber zwischenzeitlich lässt sich sogar die Sonne blicken. Die Pfützen schimmern silbern auf dem teils rissigen Asphalt. Die Straßen in Wolfberry sind nur mäßig befahren, und das Überqueren ist recht problemlos. Wir gehen an niedrigen Einfamilienhäusern vorbei, die ausschließlich mit Holz verkleidet wurden. Manche sind in Pastelltönen gestrichen, andere sind weiß wie unseres.
Wir lassen den Supermarkt hinter uns und biegen an der eher unscheinbaren Kirche in die City ein. Es gibt eine Einkaufspassage mit kleinen Shops, Cafés und einer Bar, die erst um zwanzig Uhr öffnet. Den Mittelpunkt bildet die große Bibliothek. Das alleinstehende Bauwerk überragt alle anderen Häuser. Durch den Vorbau, der mit Säulen gestützt ist, und die verzierten Giebel wirkt die Bücherei wie das Sommerhaus einer Königin.
George hastet regelrecht hinein und lässt mich zurück. Er scheint wirklich verabredet zu sein.
Ich betrete langsam das Gebäude. Kühle umfängt mich, und ich fröstle leicht. Der Duft der Bücher strömt mir entgegen, erinnert mich für einen Moment an all die Stunden, die ich hier lernend verbracht habe, um meinen Abschluss zu schaffen. Das unangenehme Gefühl schiebe ich beiseite, denn ich freue mich darauf, in den Büchern stöbern zu dürfen.
An der Abgabe wartet Ms Douglas schon auf mich. Sie ist eine liebenswürdige Dame, die geduldig alle Bücher kontrolliert, sie abscannt und in ihrem PC nachprüft, ob noch Gebühren fällig sind.
„Oh, Liebes …“, sagt sie bedauernd.
Ich senke den Blick, kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. „Ja, ich weiß“, erwidere ich leise.
In diesem Augenblick bin ich froh, dass hinter mir nicht so viele Leute stehen, denn ich muss Mahngebühren bezahlen.
„Es tut mir leid, Ms Douglas, ich habe vergessen, sie rechtzeitig abzugeben.“
„Und dabei haben wir doch jetzt diese tolle Webseite, auf der ihr die Bücher selbst verlängern könnt.“
„Das wusste ich nicht!“
Sie kramt auf ihrem Schreibtisch herum und hält triumphierend einen Info-Flyer in der Hand. Ich nehme ihn und verkneife mir ein Schmunzeln. Er sieht aus, als hätte Mr. Bridges, der Verwalter der Bücherei, selbst mit seinem Fotoprogramm herumgebastelt.
„Das nächste Mal verlängerst du einfach, Liebes. Dann wird es nicht so teuer für dich.“
Ms Douglas nennt mir mit einem entschuldigenden Lächeln den Preis, und ich schlucke. Von meinem Geld wird nicht mehr viel übrig bleiben, aber ich sage nichts, sondern bezahle meine Gebühren. Ich bin ja selbst schuld.
Jemand zieht mir von hinten überraschend an den Haaren, und ich zucke leicht zusammen.
„Na, Schwesterchen, da hast du richtig zahlen müssen, was?“
Ich verdrehe die Augen und sehe mich zu George um. Neben ihm steht die Tochter von Constable Murphy. Heather schaut mich mit einem falschen Lächeln an.
„Hallo Rebecca“, sagt sie und betont dabei meinen Namen eigentümlich. Sie streicht sich die hellblonden Locken zurück und hakt sich bei George unter.
Ist sie seine neue Freundin?
„Hi Heather.“
Sie ist nach mir dran, und ich mache ihr Platz.
Auch Harry Patel ist mit seiner Clique in der Nähe, Heather gehört zu seinem Freundeskreis und geht nun mit George zu der kleinen Gruppe. Ich stehle mich davon.
Ein hoher Torbogen trennt das Foyer von den Büchern, die in dunklen Regalen stehen. Die Wände sind mit Holz getäfelt, was dem Raum Behaglichkeit schenkt. Es gibt unterschiedliche Abteilungen, und jede ist gut gekennzeichnet.
Ich schlendere durch die Gänge, überfliege die Themen. Was möchte ich mir nach all dem Lernen ausleihen?
Schritte lassen mich aufmerksam werden, und ich drehe mich um. Es ist Dylan Franklin, der mich scheu anlächelt. Trotzdem gehe ich ihm lieber aus dem Weg. Auch er gehört zu Harrys Freunden, und diese Clique ist mir nicht geheuer, schon mal gar nicht, wenn George nun dazugehört.
Eher unbewusst streiche ich über meine Eulenkette und steuere den mystischen Bereich an. Hier lagern viele alte Werke. Mein Herz beginnt schneller zu pochen, während ich sachte über die antiquierten Buchrücken streiche. Einige Titel fallen mir ins Auge, doch nur einer spricht mich an.
„Krafttiere“, murmle ich.
Ich ziehe die Lektüre hervor und will sie an mich nehmen, dabei rutscht sie mir aus der Hand. Leise zische ich einen Fluch und beuge mich vor, um sie aufzuheben. Mein langes Haar fällt mir ins Gesicht und versperrt mir jede Sicht. Ich streiche es nach hinten, richte mich auf. Rasch kontrolliere ich den empfindlichen Einband.
„Ist sicher nichts passiert“, höre ich eine Stimme und sehe mich um.
Ich entdecke Noah Mikaels auf einem der Lesesessel. Ich presse das Buch an meine Brust. Es hat mir die Sprache verschlagen. Unschlüssig bleibe ich stehen, denn er beobachtet mich.
Noah ist auf dieselbe Highschool gegangen und war eine Klasse über mir. Ich weiß nicht viel über ihn, die meisten nennen ihn den Indianerjungen.
Sein schwarzes Haar liegt ihm über den Schultern, er hat es hinter die Ohren gestrichen. Die schlanke Figur harmoniert gut mit der gebräunten Haut.
Zögerlich trete ich näher.
„Der andere Sessel ist noch frei“, sagt er freundlich.
Es klingt wie eine Einladung, die ich erwäge, anzunehmen. Ich gehe um das hohe Regal, das mir den Blick versperrt, und nun sehe ich den freien Platz. Ich überlege kurz und setze mich ihm gegenüber. In der Schule ist mir Noah wie ein geheimnisvoller Einzelgänger vorgekommen. Schon damals wirkte er sehr anziehend auf mich. Ihn jetzt so nah vor mir zu wissen, entfacht eine seltsame Empfindung in mir. Unsicherheit mischt sich dazwischen. Erneut hebe ich die Hand zu meinem Dekolleté und umfasse meinen Eulenanhänger.
Auf dem Tischchen, das uns voneinander trennt, liegt der Schutzumschlag seines Buches. Ich linse auf den Titel. Es geht um die Kultur der Shawnee.
Er muss meinen interessierten Blick bemerkt haben, reagiert aber zunächst nicht darauf, und ich wage nicht, ihn darauf anzusprechen.
„Du heißt Rebecca, oder?“
„Ja, und du bist Noah.“
Er scheint überrascht, dass auch ich weiß, wie er heißt. Er nickt und legt sein Buch beiseite. „Du hast da wirklich eine sehr schöne Kette. Wo bekommt man so was hier?“
Sein Lob lässt mich tatsächlich erröten, und ich wünschte, dass ich doch Make-up aufgetragen hätte.
„Ich habe sie selbst gemacht“, antworte ich verlegen.
„Ist wirklich etwas Besonderes.“
„Vielen Dank.“
„Deshalb das Buch über Krafttiere?“
Verdutzt schaue ich auf meine Leselektüre. Habe ich sie wegen der Eule ausgesucht? „Wenn, dann war es wohl eher unbewusst.“
Noah beugt sich etwas vor. „Die Eule ist sehr weise und begleitet gerne Menschen, die wissbegierig sind.“
„Und das sagt wer?“
Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Das sagt mein Dad immer, wahrscheinlich wegen Holly.“ Er lehnt sich wieder zurück in das Polster.
„Holly?“
„Mein Steinkauz.“
Für einen Augenblick fürchte ich, dass er sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber er scheint es völlig ernst zu meinen.
„Du hast einen Steinkauz?“
„Ja, hab ich wirklich. Sie ist als Jungvogel aus dem Nest gefallen und hat sich den Flügel gebrochen. Ich habe sie gefunden und gesund gepflegt. Sie kann fliegen, allerdings nur kurze Strecken, dann versagen ihre Kräfte.“
Nun beuge ich mich interessiert vor. „Machst du das öfter? Wildtieren helfen?“
„Ja, schon.“
„Wow, das finde ich toll.“
Noah lacht leise auf. „Ich weiß nicht, ob dir das kleine Stinktier letztens auch gefallen hätte.“
„Ist passiert, was ich befürchte?“
„Oh ja, es war zuerst nicht begeistert von seiner Rettung. Hinterher war es aber recht kooperativ.“
„Was ist mit ihm passiert?“
„Es ist von einem Auto angefahren worden und hat sehr viel Glück gehabt. Weil es noch jung war, konnte ich es recht gut händeln.“
„Hast du es noch?“
„Nein, mittlerweile streift der Kleine wieder durch die Wälder.“
Fast unauffällig spähe ich auf das Buch, das er vorhin durchgeschaut hat. „Darf ich dich was fragen?“
„Ja, sicher.“
„Aber sei mir bitte nicht böse.“
„Ach Unsinn, wieso denn?“
Ich lecke mir nervös über die Lippen. „Stimmen die …“
„Hey, Rebecca, wo bist du?“, ruft mein Bruder laut durch die Bücherei.
Es folgen Psst-Laute und ärgerliches Gemurmel der Bibliotheksleser.
„Entschuldige“, sage ich zu Noah und richte mich auf.
George hat mich schon entdeckt und mustert meinen Gesprächspartner skeptisch. „Mom hat angerufen. Sie sagt, wir sollen nach Hause kommen, wenn wir etwas zu essen haben wollen.“
Ich zögere, würde viel lieber noch mit Noah weiterreden, möchte mehr über die Arbeit mit den Wildtieren wissen. Auf einmal habe ich tausend Fragen an ihn!
„Jetzt schon?“
Auch George wirkt nicht glücklich darüber. Heather scheint bereits fort zu sein. Er zuckt mit den Schultern. „Kommst du jetzt?“, drängelt er.
Meine Mutter tut immer so, als hätten wir eine Wahl, wenn es um das Abendessen geht. In Wirklichkeit würde sie uns tagelang wie Luft behandeln und nicht mit uns reden, kämen wir nicht.
„Bist du öfter hier?“, fragt mich Noah plötzlich.
Fast erschrecke ich, denn Georges Kopf ruckt in seine Richtung, und ich weiß, wie er manchmal mit seinen Freunden über Noah redet. Der ignoriert meinen Bruder schlichtweg.
„Morgen?“, frage ich trotzdem.
„Ich bin zur gleichen Zeit hier.“
Da George ihn wie ein Pitbull anfunkelt, öffnet Noah sein Buch und blättert in den Seiten herum. Mein Bruder zieht mich förmlich fort von ihm. Als wir draußen auf der Straße stehen, hält er mich auf.
„Bist du bescheuert? Warum quatschst du mit dem?“
„Mit Noah?“, tue ich unschuldig.
„Mit der Indianerfresse!“
„George!“
„Ist doch so!“
„Der Einzige, der hier bescheuert ist, das bist du!“
„Das werden wir sehen, wenn ich es Dad erzähle.“
Ich packe ihn unsanft am Ärmel. „Das tust du nicht!“
„Und ob.“
„George, bitte.“
„Was denn? Soll er dein neuer Freund werden?“
„Ich hab mich bloß unterhalten. Und Dad wird sich wieder aufregen.“
George löst meine Hand von seiner Jacke und stiefelt vorneweg. Mich überkommt leichte Übelkeit. Anscheinend darf ich mir noch nicht einmal meine Freunde selbst aussuchen. Ich habe sogar das Buch über Krafttiere auf dem Tisch liegen gelassen.
Nach einer Weile bemerkt mein Bruder, dass ich ihm nicht wie sonst folge.
„Was ist denn jetzt?“, fragt er unwirsch.
In mir flammt Wut auf, und ich kämpfe mit mir. Ich bin neunzehn Jahre alt und lasse mich von meiner Familie rumkommandieren, als wäre ich zehn!
George stemmt die Hände in die Hüften und seufzt ungeduldig auf.
Etwas in mir begehrt auf. Soll er doch zu unserem Vater rennen und mich verpetzen. Was soll’s! Dann redet meine Mutter eben ein paar Tage nicht mit mir. Ich wende abrupt und gehe zurück zur Bibliothek.
„Was soll das denn jetzt, Rebecca?“
Ich drehe mich noch einmal halb zu ihm um. „Mach was du willst, George. Ich bleibe noch in der Bibliothek.“
„Aber Mom …“
„Dann ist das so!“
Ich nehme einen tiefen Atemzug und gehe zurück in die mystische Abteilung. Noah blickt auf, sieht mich überrascht an.
„Das war ein schnelles Abendessen“, scherzt er.
Ich setze mich wieder auf den Sessel ihm gegenüber. „Ach, das lasse ich heute ausfallen.“
Mit einem schelmischen Grinsen schlägt er die Beine übereinander. Mir fällt auf, dass er zur Jeans graue Mokassins trägt. Das lässt wieder meine Frage aufkeimen. Da mir seine Herkunft irgendwie unwichtig geworden ist, werde ich ihn später mal danach fragen.
„Vielleicht gehen wir ins Forest Creek?“, schlägt er vor.
Ich liebe das außergewöhnliche Café in der Einkaufspassage. „Das klingt perfekt.“
Wir stehen auf, greifen zeitgleich nach unseren Büchern, als mein Handy klingelt. Ich hole es aus meinem kleinen Rucksack, den ich als Handtasche nutze und schaue auf das Display. Es ist meine Mutter. Also hat George sie sofort angerufen. Mich erfasst ein nervöses Gefühl in der Magengegend. Trotzdem lehne ich den Anruf ab, schreibe ihr eine Nachricht, um ihr zu sagen, dass ich heute nicht zum Essen kommen werde. Über die Konsequenzen denke ich besser noch nicht nach. Entschieden schalte ich das Smartphone auf lautlos und verstaue es wieder.
„Alles in Ordnung?“
Mein erster Impuls ist, einfach Ja zu sagen, aber Noahs Frage ist ehrlich gemeint, ich erkenne es an seinem Blick. „Meine Mutter wird ausrasten und mich wahrscheinlich tagelang anschweigen, weil ich ihr Festmahl verpasse.“
„Meine Mom füttert wahrscheinlich gerade das Grauhörnchen, und mein Dad bekommt nachher nur ein Sandwich“, erwidert er lächelnd.
„Ein Grauhörnchen hast du also auch?“
„Ein sehr kleines.“
„Irgendwann musst du mir deine Tierwelt mal zeigen.“
Er scheint überrascht, dass ich wirkliches Interesse zeige. „Gerne, komm vorbei, wann du möchtest. Ich wohne drüben im Pond-Viertel, es ist das letzte Haus mit dem chaotischen Garten.“
Seine Einladung löst ein angenehmes Kribbeln in mir aus.
Wir leihen unsere Bücher aus und schlendern in die Passage mit den Boutiquen. Für den Augenblick ist mein Familienproblem vergessen.