Tom ist in einer schier aussichtslosen Situation. Er lernt Finlay kennen und verliebt sich in den jungen Mann. Doch Finlay hat eine Freundin. Trotzdem werden die beiden Freunde und suchen die Nähe des anderen. Finlay weiß von Toms Homosexualität, sie reden aber nicht darüber. In den nächsten Wochen leidet Tom, denn jede Hoffnung ist vergebens.
Als sich Tom und Finlay nach einer durchfeierten Nacht viel zu nahkommen, wird ihnen bewusst, dass Finlay in einer Lüge lebt. Beide sind verwirrt und von ihren Empfindungen überwältigt. Finlay stößt Tom schließlich wieder von sich, weil er die Wahrheit nicht sehen will. Hat ihre Liebe trotzdem eine Chance?

 

 

Heimliche Nähe

Genre: Gay-Romance

Verlag: Ashera Verlag

 

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Thalia

Taschenbuch

 

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LESEPROBE

 

 

Ein fataler Kuss

 

Ich sitze zusammen mit Felix im Hinterhof auf der niedrigen Mauer und wir unterhalten uns mit gedämpften Stimmen, weil ich nicht will, dass mein Nachbar uns entdeckt. Herr Aster hat mich schon als Kind gehasst. Wenn mein Ball zu ihm in den Garten flog, hat er ihn einfach mit seiner Harke aufgespießt. Einmal hat er mir sogar eine Ohrfeige verpasst, weil ich aus Versehen mit dem Roller seinen Rosenstock umgefahren habe. Da war ich acht Jahre alt. Ich rächte mich damals mit Nacktschnecken.

Ich erzähle Felix davon und er gluckst amüsiert.

Damals sammelte ich die Viecher überall auf und setzte sie Herrn Alster spät abends in seinen Salat. Ich brauche wohl nicht erwähnen, dass er sich danach den Kopfsalat im Supermarkt kaufen konnte.

„Der Kerl spinnt total“, murmelt Felix und wirft einen vorsichtigen Blick in den Nachbargarten. „Vorhin dachte ich ernsthaft, der wirft die Gartenschere nach uns.“

Ich zucke ergeben mit den Schultern. „Ich erwarte jedes Mal ein Messer im Rücken, wenn ich allein im Garten bin. Und bei meiner Mutter schleimt er immer rum.“ Mir entschlüpft ein Seufzen. „Früher dachte ich, dass er keine Kinder mag. Aber irgendwas hat er gegen mich. Keine Ahnung.“

Wir genießen die Sonne, die trotz der beschützenden Häuserwände links und rechts zu uns durchdringt. Ich linse zu Felix. Er sieht süß aus, mit den braunen, verwuschelten Haaren und dem viel zu engen Shirt. Rasch wende ich den Blick ab, bemerke aber, dass er mich ebenso beobachtet. Mein Herz klopft viel zu schnell, als er zaghaft und wie zufällig mit der Hand näherkommt, mich kurz an der Seite meines Oberschenkels berührt.

War das ein Zeichen? Überrascht sehe ich ihn an. Er zieht seine Hand blitzschnell zurück, als bereue er diese Geste. Da ich nicht weglaufe und ihn wohl ziemlich sehnsüchtig anschaue, bleiben wir wie erstarrt auf den bröckeligen Steinen sitzen.

Ich kenne Felix von einer Party. Wir ziehen seit einigen Wochen immer mal wieder um die Häuser. Einschätzen kann ich ihn zurzeit noch nicht. Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass er schwul sein könnte.

Nun, ich bin es auf jeden Fall, und sein Blick bewirkt, dass mir das Blut abrupt in die unteren Regionen schießt. Ob er schon mal einen Jungen geküsst hat? Ich schon. Vor einem Jahr bin ich heimlich in eine Schwulenkneipe gegangen. Allerdings wurde mir schnell klar, dass dort keiner hingeht, um sich zu unterhalten. Ich fand mich schneller in einer dunklen Ecke wieder, als ich gucken konnte, knutschte wild mit einem Fremden, und flüchtete schließlich überstürzt, als er mir die Hose aufknöpfen wollte. Meine Flucht war richtig gewesen, aber ich träume noch heute von dem Blowjob, den ich damals vielleicht bekommen hätte.

Shit, ich sollte nicht an so was denken, wenn Felix mich so ansieht. Irgendwie vergesse ich, wo wir sitzen, und beuge mich vor. Er weicht kein Stück vor mir zurück, kommt mir entgegen. Unsere Lippen berühren sich zaghaft, lösen sich wieder voneinander.

„Du bist schwul“, flüstert Felix mit einem fast entzückten Gesichtsausdruck. Er fasst mir in die Locken, zieht mich zu sich hin und ich kann nur leise aufstöhnen, als wir auf der Mauer beginnen, uns zu küssen. Ich kippe fast nach hinten, aber Felix hält mich fest, presst mich an sich.

„Tom?“, dringt eine Stimme zu mir durch. Sie klingt geschockt. Für mich hat sie den Effekt von einem Eimer eiskalten Wassers.

Ich stoße Felix von mir und schaue atemlos auf meinen Vater, der mich mit entsetzter Mimik ansieht. Das Bild brennt sich mir wie ein Branding ins Herz. Ich haste auf.

Papas Gefühle wandeln sich in Wut, ich sehe es ihm an. Er fixiert Felix. „Verschwinde“, sagt er gefährlich leise zu ihm.

„Tut mir leid“, flüstert Felix. Er sucht kurz meinen Blick, dann flieht er vor der Situation.

Ich sehe ihm nicht einmal nach. Auch er muss am Ausdruck meines Vaters gesehen haben, dass ich definitiv nicht geoutet bin. Ich würde sagen, jetzt bin ich es. Scheiße!

Mein Vater dreht sich um und geht einfach weg, zurück ins Haus. Mir schnürt es die Kehle zu, ich kriege keinen Ton raus. Ich fluche innerlich, laufe ihm hinterher, will es erklären.

„Papa, jetzt warte doch mal!“, krächze ich.

Er wirbelt herum. In seinen Augen funkelt es gefährlich auf, und er tut etwas, das er noch niemals getan hat. Es geht viel zu schnell, als dass ich mich ducken könnte. Papa holt aus und gibt mir eine harte Ohrfeige, sodass ich zurücktaumele. Fassungslos sehe ich ihn an. Er wirkt nicht minder geschockt. Mama schreit auf, faucht meinen Vater an, aber ich höre nicht wirklich, was sie sagen. Alles verschwimmt vor meinem Blick. In meinen Ohren rauscht es. Wortfetzen erreichen mich, die ich nicht einordnen kann, begreife aber, dass Papa ihr erzählt, was er gesehen hat.

Meine Welt stürzt in dem Augenblick ein, als sich meine Mutter zu mir umwendet. So viel Enttäuschung, so viel Erschrecken sehe ich in ihren Augen. Insgeheim habe ich immer gehofft, dass sie es verstehen würde. Aber ich sehe ihr an, dass in ihr gerade irgendetwas stirbt. Sie beginnt zu weinen. Papa verlässt abrupt das Haus.

Ohne zu überlegen, rase ich nach oben in mein Zimmer. Ich bin volljährig, kann machen, was ich will. Und ich muss definitiv hier raus. Sofort!

Papas Schwulenwitze haben mich immer davon abgehalten, meinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Er ist ein herzensguter Mensch, aber er versteht nicht, wenn jemand aus der Normalität ausbricht, die er selbst als unumstößlich ansieht. Mama lächelte immer nur über seine Scherze, und in mir brannte immer die Hoffnung, dass sie spürt, dass bei mir etwas anders ist. Dem ist wohl nicht so. Diese Erkenntnis schmerzt. So sehr, dass ich Tränen auf den Wangen spüre, die ich mir unwirsch fortwische.

Wahllos stopfe ich Sachen in meinen Rucksack, renne die Treppe hinunter und verlasse das Haus. Ohne ein weiteres Wort.

Ich höre Mama schluchzen, will zu ihr eilen, aber ich bin das Übel, das sie weinen lässt. Also verschwinde ich.

Haltlos renne ich davon, sehe kaum, wo ich hinlaufe. Nur fort! Fort von den Blicken meiner Eltern, vor der Wahrheit, vor mir selbst. Zu spät sehe ich die Gestalt, die genau auf mich zukommt, und der ich nicht mehr ausweichen kann. Wir scheinen uns beide nicht registriert zu haben, stoßen mit voller Wucht zusammen und ich werde regelrecht zurückgeschleudert. Jemand packt mich hart am Arm und bewahrt mich vor einem üblen Sturz. Ich lande trotzdem mit dem Hintern unsanft auf dem Boden, ziehe mein Gegenüber gleich mit. Verblüfft schaue ich in dunkle Augen, die mich kritisch mustern.

„Hey, ist dir was passiert? Sorry, ich hab dich nicht gesehen“, sagt der junge Mann besorgt und hilft mir hoch. 

Für einen Augenblick ist mein Problem verdrängt. Ich fühle mich, als wäre ich aus der Zeit gerutscht, alles läuft langsamer. Ich klammere mich an meinen Rucksack, der mir von den Schultern gerutscht ist.

Das kurze Haar des Unbekannten ist schwarz und modern geschnitten. Eine längere Strähne fällt ihm in die Stirn. Er ist verschwitzt, muss gejoggt haben, trägt nur eine kurze Shorts und ein Achselshirt. Aber das nehme ich nur am Rande wahr. Ich sehe ihm völlig entgeistert in das schöne Gesicht. Die Ahnung eines Parfüms dringt zu mir durch und es betört mich, wie noch niemals etwas zuvor.

Ich glaube, mein Verhalten irritiert ihn, denn er weicht etwas zurück. Mit einem unsicheren Lächeln geht er an mir vorbei. Ich verfolge, wie er seinen Lauf wieder aufnimmt. Einmal wendet er sich noch um, dann sehe ich ihn nicht mehr, weil er um eine Biegung joggt.

Nur langsam dringen die Geräusche wieder zu mir durch. Verwirrt schüttele ich den Kopf. Was war das eben?

Mit Macht wird mir die akute Situation wieder bewusst und ich weiß nicht mehr, wohin ich gehen soll. Verloren trotte ich den Weg entlang. Ich bin in dem kleinen Park gelandet, der hinter unserer Siedlung beginnt. Ein See liegt auf meiner linken Seite. Enten und Schwäne ziehen dort ihre Bahnen, aber die Idylle dieses Ortes lässt mich heute kalt. Mein Herz klopft hart gegen meine Brust. Ich denke an Felix, an meine Eltern, an meinen Praktikumsplatz. Und immer wieder stiehlt sich dieser fremde Jogger in meine Gedanken.

„Geh aus meinem Kopf“, grummele ich. „Das kann ich jetzt nicht auch noch gebrauchen.“

Ich kauere mich am Seeufer hin und sehe auf das Gewässer.

Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu. Ich hoffe die ganze Zeit, dass meine Mutter mich anruft, mir eine Nachricht schickt. Irgendetwas! Aber es herrscht absolute Funkstille. Dies verursacht in mir ein Gefühl, als läge mir ein glühender Stein auf dem Herzen. Ich wage es nicht, mich bei ihr zu melden. Während ich hier sitze, wird mir klar, dass es nun kein Zurück mehr gibt. Ich begreife, dass ich das auch nicht will. Diese Heimlichtuerei nagt schon lange an mir. Diese Maske, die ich für meine Familie benutzt habe, tut mir weh, ich kann sie nicht mehr aufsetzen.

Als es dämmert und ich zu frieren beginne, ziehe ich mir einen Pullover über, weil ich keine Jacke dabei habe. Um kurz vor zehn, es wird langsam dunkel, klingelt der WhatsApp-Ton meines Handys. Mein Herz erhält regelrecht einen Stromstoß. Hastig greife ich nach dem Smartphone. Meine Mutter hat nur einen Satz geschrieben: ›Geht es Dir gut?‹ 

Was soll ich schreiben? Nein, mir geht es nicht gut! Aber ich weiß instinktiv, was sie meint. Es geht nicht um das Emotionale, da bin ich sicher. Deshalb antworte ich nur mit einem vagen: ›Ja.‹

Bitte schreib, dass ich zurückkommen soll, beschwöre ich sie innerlich. Aber es kommt nichts mehr.

Ich mag achtzehn sein, in diesem Moment fühle ich mich wie zehn. Es gibt nur einen Ort, der mir einfällt, der mir Trost geben könnte. Ich raffe mich auf, laufe quer durch unser Städtchen und gehe über Felder und Wiesen, bis ich leises Schnauben höre. Ich weiß, dass der Bewegungsmelder anginge, wenn ich vorne auf den Hof liefe. Das Licht würde mich verraten und ich habe absolut keine Lust, Fragen zu beantworten. Also schleiche ich mich von der Rückseite in die Nähe des Reiterhofs und stelle mich dem Hund. Jack gibt Laut, erkennt mich aber sofort an der Stimme, auch wenn wir uns lange nicht gesehen haben. Der große, wuschelige Kerl begrüßt mich mit leisem Wimmern. Meine Finger vergraben sich in seinem grauen Fell. Als ich ein Wiehern höre, strebe ich zu einem der Stallfenster und schnalze mit der Zunge. Sofort reagiert Lian, dreht sich in seiner Box um und schaut zu mir hinaus, begrüßt mich, indem er mich sachte anstupst.

„Hey, Kleiner, kann ich heute bei dir schlafen?“

Natürlich ist Lian alles andere als klein, er ist ein ziemlich hochgewachsener Haflinger, aber das war schon immer mein Kosename für ihn. Ich klettere durch das Fenster zu ihm in die geräumige Box. Seit zehn Jahren kenne ich dieses wunderbare Pferd. Ich habe auf Lian reiten gelernt, er war jahrelang meine Reitbeteiligung, bis ich wegen des Abiturs etwas kürzer treten musste. Ich hab den Burschen echt vermisst und nehme mir fest vor, ihn wieder öfter besuchen zu gehen. Es ist ein Wallach mit cremefarbenem Fell. Er ist manchmal stur, ziemlich verschmust und liebt es, mich in den Po zu zwicken, wenn ich ihm die Hufe auskratze.

Ich klaube ihm ein paar Halme aus der Mähne und setze mich einfach in die Streu, die glücklicherweise recht frisch zu sein scheint. Lian stört sich nicht daran, dass ich vorhabe bei ihm zu bleiben. Er schnuppert interessiert meinen Rucksack ab, testet, ob er ihn fressen oder mit dem Huf treten kann, was mir ein Lachen entlockt. Ich klaue ihm sein Spielobjekt und lege meinen Kopf auf die Tasche.

„Trete mich nicht tot, okay?“

Lian schnuppert an mir, bleibt ruhig stehen und schnaubt leise. Ich presse mich an die Wand. Ein Schluchzen bahnt sich einen Weg nach draußen. Aufhalten kann ich es nicht. Weinend klammere ich mich an den Rucksack. Zumindest bin ich nicht mehr alleine. Draußen beginnt es zu regnen. Das Handy bleibt still.     

 

 

Der Wolf zwischen den Büchern

 

Lian hat mich glücklicherweise nicht totgetrampelt. Aber er weckt mich, indem er an meinem Pulli zupft. Ich richte mich auf, schiebe ihn etwas weg, reibe mir über die Augen. Geräusche und Stimmen erklingen im Stall. Die Arbeit auf dem Reiterhof beginnt bereits. Erschrocken wird mir bewusst, dass ich richtig Ärger kriegen könnte. Also drücke ich Lian schnell einen Kuss auf die Nüstern, klettere aus dem Fenster und bedanke mich still bei Jack, der bei mir seine Aufgabe als Wachhund schlichtweg vernachlässigt.

Die Wiese hinter den Stallungen ist so durchnässt, dass ich tief ins Erdreich einsinke. Mein Magen knurrt und ich muss mich dringend erleichtern, was ich am Waldrand tue.

Ein Blick auf mein Smartphone sagt mir, dass niemand nach mir gefragt hat, nicht einmal Felix. Ein Lichtpunkt ist die Buchhandlung, in der ich zurzeit arbeite, in der Hoffnung dort einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Nichts hält mich ab, heute normal in dem Lädchen zu erscheinen. Wo sollte ich auch sonst hin?

In der Stadt kaufe ich mir zwei belegte Brötchen vom Bäcker. Meine Schuhe knarzen bei jedem Schritt von der Feuchtigkeit. Ich friere so sehr, dass mein Körper sachte bebt. Viel zu früh erscheine ich bei der Arbeit, nicht einmal die Chefin ist schon da, also setze ich mich vor die Tür, esse die Brötchen und warte.

Claudia kommt noch vor Frau Herder und erkennt sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie fasst mir unter das Kinn, damit ich ihr in die Augen sehe.

„Was ist passiert, Tom?“

Wahrscheinlich arbeitet sie schon seit Jahren in dem Laden. Von Anfang an ist sie nett zu mir, umsorgt mich wie ein Hündchen, das sie besonders süß findet. Als ich ihr sorgenvolles Gesicht sehe, kann ich kein Versteckspiel mehr ertragen.

„Ich bin abgehauen“, wispere ich.

Sie hockt sich vor mich hin. „Warum?“

Tränen verschleiern meine Sicht und ich blinzle. „Ich bin schwul“, sage ich, als ob das alles erklären würde.

Mehr brauche ich nicht zu sagen. Claudia zieht mich auf, schließt die Tür zur Buchhandlung auf. Das Glöckchen klingelt wie ein Windspiel und ich fühle mich seltsamerweise sofort zu Hause. Entschieden führt sie mich nach hinten in den Aufenthaltsraum, dirigiert mich zum Tisch.

„Hast du was gegessen?“

Ich nicke. „Hab mir was vom Bäcker geholt.“

Sie setzt sich zu mir. „Erzähl mir, was passiert ist?“

Und das tue ich, lasse kein Detail aus, entschuldige mich sogar dafür, ihnen nicht gesagt zu haben, dass ich schwul bin.

„Schätzchen, ich rede mit dir doch auch nicht über meine Liebschaften“, erwidert sie ungerührt. „Also entschuldige dich nicht dafür.“

„Meinst du, ich darf trotzdem weiter hier arbeiten? Was wird Frau Herder …?“

„Ich rede mit ihr. Wenn du mir versprichst, das mit deinen Eltern zu klären.“

Mir rutscht das Herz in die Hose, aber ich weiß, dass sie recht hat. Jede Nacht möchte ich mich auch nicht in den Pferdestall schleichen. 

Also verspreche ich es ihr.

Da wir beide ziemlich früh dran sind, mache ich mich im Bad etwas frisch. Im Spiegel prüfe ich mein Aussehen, versuche, meine dunkelblonden Locken etwas zu bändigen. Meine Haare machen, was sie wollen, aber irgendwie steht mir das gut. Ich bin nicht so der maskuline Typ, schaue mich mit hellblauen Augen an, deren Ausdruck mich gerade an einen verstoßenen Hund erinnert. Kein Wunder, dass Claudia mich wie eine Glucke behandelt, wenn ich sie so ansehe. Ich versuche einen männlicheren Blick und scheitere kläglich.

Super, ich bin ein Weichei.

Mit einem Schnauben wende ich mich ab und ziehe mir frische Klamotten über. Mehr habe ich in der Eile auch nicht mitgenommen. Wechselsachen, Handy und die Geldbörse, das war‘s. Ich verfluche meine nassen Füße, ignoriere aber die Geräusche, die meine Synthetikschuhe von sich geben, und gehe in den Verkaufsraum.

Als Frau Herder kommt, steht Claudia am Tresen und überprüft etwas an der Kasse, während ich fleißig neue Bücher einsortiere. Hier zwischen all den Geschichten kann ich die Geschehnisse komplett verdrängen.

Ich bin im Paradies, genieße den Duft der Bücher, lese heimlich die Klappentexte und schaue immer mal wieder auf vereinzelte Szenen. Mittlerweile habe ich einen unglaublich langen Wunschzettel, was Bücher betrifft.

Frau Herder und Claudia lassen mich in Ruhe. Ich frage mich, ob sie mit der Chefin schon geredet hat?

Irgendwann geht Claudia an mir vorbei, wuschelt mir durch die Locken. „Mach dir keine Sorgen. Ich denke, das klappt mit dem Ausbildungsplatz.“

Aufgeregt wende ich mich ihr zu. „Du hast mit ihr gesprochen?“, flüstere ich.

Sie bleibt stehen, lächelt mich an und nickt.

Die Türglocke bimmelt und wir schauen beide zum Eingang. Mein Herz vollführt einen ziemlich üblen Stolperer und ich vergesse kurz zu atmen. Ach, du scheiße. Das ist der Jogger, den ich gestern umgerannt habe.

Claudia geht freundlich auf ihn zu, fragt, ob sie ihm helfen könne. Er sucht nach einem Fachbuch, und meine Kollegin führt ihn in die richtige Abteilung. Von ihnen unbemerkt schleiche ich hinterher, beobachte ihn. Heute trägt er eine schwarze Jeans und ein hellblaues Hemd, das er leger aus der Hose trägt. Das dunkle Haar ist mit Gel zerzaust frisiert. Er sieht aus wie ein Katalogmodel.

Ich verstecke mich hinter dem Buchregal und gehe von da aus zurück zu meinem derzeitigen Arbeitsbereich, der Fantasybuchecke. Da wird er höchstwahrscheinlich nicht auftauchen − hoffe ich. Oder möchte ich, dass er genau hierher kommt? Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich komme mir bescheuert vor. Ich habe wirklich Probleme am Hals und himmele irgendeinen Fremden an?

Aber … so war es noch nie!

Das verstört mich regelrecht. Mit zittrigen Händen greife ich eines der Bücher aus dem Korb und sortiere es ein, versuche, nicht an ihn zu denken. Meine Fingerspitzen streichen über einige Buchrücken. Ich lese die Autoren und überlege, ob ich bereits Titel zuordnen kann, die zu ihnen gehören.

Ich höre, wie er sich räuspert. Durch eine Lücke im Regal sehe ich, wie er auf der anderen Seite näherkommt. Ein Buch ist in seiner Hand und er schlendert umher. Wie ein Wolf schleicht er um die Bücherregale. Ich fürchte ihn auf eine seltsame Art, als sei er tatsächlich ein Raubtier. Nervös fahre ich mir durch das Haar, zerzause meine Locken noch mehr. Dann sehe ich ihn nicht mehr. Ob er zur Kasse geht?

„Hey, kennen wir uns nicht?“

Vor Schreck falle ich gegen die Bücher. Und wieder hält er mich fest, damit ich nicht das ganze Regal umstoße.

„Ich wollte dich nicht erschrecken! Entschuldige.“

Er ist ein paar Zentimeter größer als ich, nicht viel, ich kann ihm direkt in die Augen sehen. In dem Licht der Buchhandlung sieht seine Iris aus wie diese Halbedelsteine, die man Tigerauge nennt. Da ich mich gerade wie ein schreckhaftes Häschen benehme, versuche ich, mich zusammenzureißen. Also straffe ich mich und lächle ihn an. „Kein Problem, ich falle ständig gegen die Dinger. Irgendwann muss man ja mal umräumen“, plappere ich. Was rede ich denn da für einen Stuss?

Als er mich anlächelt, fühlt es sich an, als ob mich ein Sonnenstrahl trifft. Er lacht leise auf. Dieser eine Laut raubt mir fast den Atem. Mich durchfährt ein Gefühl, als würde ich kurzzeitig abheben.

Oh Gott, war es möglich, sich in einen Fremden zu verlieben? Einfach so? Das konnte doch nicht sein!

„Wir haben uns gestern im Park getroffen oder?“

„Äh, ja, getroffen ist da wohl der richtige Ausdruck“, antworte ich und denke an unseren Zusammenstoß.

„Dir ist aber nichts passiert?“

Ich schüttle den Kopf und bin nicht in der Lage seinem intensiven Blick zu entgehen. Ich kann nicht wegschauen. „Magst du Fantasy?“, frage ich deshalb, um mich selbst abzulenken.

„Was?“ Er wirkt verwirrt. Dann sieht er sich um und registriert wohl das Genre, vor dem er gerade steht.

„Ach so. Na ja, eigentlich lese ich nicht besonders viel. Aber meine Ausbildung fängt bald an und na ja ….“ Er hält das Fachbuch hoch, das er kaufen will.

Dann ist er so alt wie ich? Obwohl, ich wurde recht früh eingeschult, wahrscheinlich ist er ein Jahr älter.

„Und was lernst du?“, frage ich neugierig.

„Ich muss erstmal in den Einzelhandel, danach werde ich wohl noch BWL studieren. Mein Vater hat ein Autohaus, das ich mal übernehmen soll.“

Er geht in den Einzelhandel? Mich durchzuckt es wie ein Blitz und ich kann nicht anders, als zu strahlen. „Dann sehen wir uns vielleicht mal. Ich werde hier lernen.“

Erst versteht er nicht, dann hellt sich sein Gesicht auf. „Die Berufsschule!“

Bitte sei schwul, bitte sei schwul, bitte sei schw…

„Finn?“

Eine Stimme reißt uns aus dem Gespräch und mich aus meinem Gedankenmantra.

„Ich muss gehen, meine Freundin wartet.“

Seine Worte ziehen förmlich den Teppich unter mir weg. Hetero. Unerreichbar. Aus der Traum.

Er reicht mir die Hand und ich ergreife sie mechanisch.

„Ich heiße Finlay.“

„Tom“, bringe ich nur heraus.

„Dann sehen wir uns ja“, sagt er freundlich und geht in Richtung Kasse.

Ich will die Tussi nicht sehen, die da ungeduldig auf ihn wartet. Mit zusammengepressten Lippen nehme ich ein weiteres Buch und stelle es ins Regal. Die Türglocke bimmelt, weil er das Geschäft verlässt. Ich drehe mich nicht um. Jedes Gefühl an ihn ist verschwendet, er steht auf Frauen.

Jetzt fühl ich mich wie ein Wolf − wie ein angeschossener, der am liebsten aufjaulen würde.

 

 

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© Tanja Bern